Wie unser Gehirn am liebsten lernt…

(von Dr. Bettina Hailer und Anna Eisenschank)

Im richtigen Leben ist sie Stationsleiterin. Im „Krankenhaus am offenen Herzen“ ist sie die Aufsichtsratsvorsitzende, die ihre Gremiumsmitglieder von einer Fusion überzeugen muss, einem Geschäftsführer kündigt und eine Ansprache an demonstrierende Mitarbeiter hält. Die Stationsleiterin meistert diese Aufgabe bravourös, sie erkennt ihre eigenen Fähigkeiten und die Zwänge und Notwendigkeiten einer Aufsichtsratsvorsitzenden.

Auf Basis langjähriger Führungserfahrung haben wir die Simulation zu Führung und Kooperation im Krankenhaus, das „Krankenhaus am offenen Herzen“ entwickelt. Im „Krankenhaus am offenen Herzen“ bearbeiten 12-18 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Fälle aus der echten Krankenhauspraxis. So wird zum Beispiel die nötige Ablaufveränderung zur Einhaltung der 8-Uhr-Schnittzeit im OP, ein Geburtsschaden wegen mangelnder interner Kommunikation oder ein Mitarbeitergespräch nach einem Diebstahl bearbeitet. Die Fälle sind unterschiedlichen Besprechungsrunden und Arbeitsgruppen (wie z.B. einer Chefarztbesprechung, einer Abteilungssitzung Materialwirtschaft oder einer OP-Team-Sitzung) zugeordnet. Jeder Teilnehmer ist einmal in der Rolle einer Führungskraft. Nach jeder Trainingsrunde erhalten die Teilnehmer ausführliche Feedbacks und, je nach Bedarf, kurze Erläuterungen zu theoretischen Themen. Wir führen zudem in die Methode der kollegialen Beratung ein.

Das Konzept ist getragen von der Idee, dass bisher die Vermittlung von Führungsfähigkeiten vor allem theoretisch erfolgt, der nachhaltigste Erfolg jedoch durch persönliches Erleben erzielt wird; durch persönliches Erleben der bereits vorhandenen Ressourcen und auch durch Konfrontation mit den eigenen Fähigkeiten und Methoden, die noch entwickelt oder verfeinert werden können.

In der Umsetzung erleben wir wiederholt die Bestätigung dieser Annahme. Auch dem Rollenspiel gegenüber kritische Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind mit großer Freude dabei, berichteten von eindrücklichen Lernerlebnissen (Teilnehmerstimmen: „Ich war vorab sehr skeptisch gegenüber Rollenspielen. Hier habe ich gemerkt, wie lehrreich sie sein können, es ist ein Wunder passiert.“, „Hierdurch habe ich viel mehr gelernt als durch die endlosen Powerpoint-Präsentationen.“)

Ihnen wird bewusst, was sie können. Sie erleben welche Anforderungen an die Kollegen und Führungskräfte aus anderen Bereichen des Krankenhauses gestellt werden und wodurch deren Alltag geprägt ist. (Teilnehmerstimmen: „Hat ein Verwaltungsdirektor wirklich so viele Aufgaben?“, „Keine andere Führungskraft ist mehr verfügbar und nun landen alle Aufgaben bei mir als Pflegedirektor.“) Sie lernen zu priorisieren, zu delegieren und schwierige Gesprächssituationen zu meistern. (Teilnehmerstimme: „Es war eine sehr effektive, spannende und kurzweilige Art des Lernens.“)

Eine neue Veröffentlichung von Franz Hütter und Sandra Mareike Lang zur Neurodidaktik für Trainer (Bonn 2017) bestätigt, dass dieser Erfolg auf neurobiologischen Grundlagen beruht.

Folgende Aspekte sind aus neurodidaktischer Sicht wesentlich:

Aufbau tragfähiger, stressresistenter Bindungsbeziehungen
Relevanz der im Seminar erzielten Ergebnisse und nicht nur der angewandten Abläufe und Methoden
Angebot von anspruchsvollen Erfolgserlebnissen, die das Selbstbewusstsein nachhaltig stärken
Schaffung eines Rahmens für aufrichtiges und kritisches Feedback
Kontakt mit potentiell schambesetzten Situationen
Vermittlung der Vorteile von Annäherungsverhalten statt Vermeidungsverhalten
Auseinandersetzung mit realitätsnahen Zwickmühlen

Der Aufbau tragfähiger, stressresistenter Arbeitsbeziehungen ist wichtig, weil hierdurch die Risikobereitschaft Fehler zu machen erhöht wird. In der Simulation wird der Kontaktaufbau zwischen den Teilnehmern durch die gemeinsame Bewältigung stressiger und komplexer Alltagssituationen unterstützt, wie z.B. dem unerwarteten Tod einer ViP-Person oder der Pressenachfrage zu einer eventuellen kardiologischen Überversorgung. (Teilnehmerstimme: „Es konnte sehr schnell eine Vertrauensebene innerhalb der Gruppe aufgebaut werden.“)

In der Simulation werden in jeder Runde Erfolgserlebnisse erzielt und die eigene Wirksamkeit erlebt werden. Positive Ergebnisse werden auch in völlig neuen und berufsfremden Aufgaben erzielt. Das erleichtert den Blick über den Tellerrand und das gegenseitige Verständnis. Das Lernen wird durch humorvolle Fallbeispiele erleichtert. So üben sich Stationsleiterinnen und Stationsleiter erfolgreich als Leitung Finanzen oder trösten einen verstörten Patienten, der durch die Referentin in typischer Krankenhauskleidung gespielt wird. (Teilnehmerstimme: „Ich habe sehr schnell vergessen, dass es sich um ein Rollenspiel handelt, da die Situationen so realistisch waren. Es waren Fälle dabei, die ich selbst schon so erlebt habe.“ „Die Veranstaltung hat einen hohen Praxisbezug und ermöglicht durch die praktischen Einheiten einen großen Lerngewinn.“) So werden im Seminar hochrelevante und direkt in die Praxis übertragbare Ergebnisse und Erkenntnisse erzielt.

Dabei sind die möglichen Erfolgserlebnisse anspruchsvoll und führen zu einer nachhaltigen Stärkung des Selbstbewusstseins. Im „Krankenhaus am offenen Herzen“ werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor sehr herausfordernde Situationen gestellt, wie zum Beispiel Aufsichtsratsvorsitz, Betriebsratsvorsitz oder Chefärztin. Sie erleben, dass sie mit ihren vorhandenen Ressourcen diese Aufgaben angehen und, mit Unterstützung ihres Teams, bewältigen können. (Teilnehmerstimme: „Im Rahmen des Feedbacks wurden mir einige meiner eigenen Ressourcen erst richtig bewusst.“ „Nachdem ich diese Geschäftsführungsrolle bewältigt habe, kann mich keine Führungsaufgabe mehr schrecken.“)

Aus neurobiologischer Sicht ist es auch wichtig, einen Rahmen für aufrichtiges und kritisches Feedback zu schaffen. So können sichtbare Kompetenzen weiterentwickelt und Verbesserungspotentiale klar benannt werden. In der Simulation geben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Führungsrolle Selbstfeedback, erhalten Feedback von den Teilnehmer/innen in den Mitarbeiterrollen und von den Referentinnen. Dieses Feedback erfolgt nach einer festen, vorab vermittelten Struktur und basiert auf den konkret beobachteten Verhaltensweisen. (Teilnehmerstimmen:“ Ich habe sowohl in meiner Rolle als Führungskraft als auch in den Mitarbeiterrollen viele neue Erkenntnisse gewonnen. Die gegenseitige Beobachtung regte ebenfalls zur Eigenreflexion an.“ „Als Führungskraft bekommt man viel zu selten Feedback.“ „Ich fand die 1:1 Rückmeldung und das Ansprechen der eigenen, persönlichen Schwächen sehr hilfreich.“)

Für die Stärkung der Resilienz gegenüber sozialen Bewertungen kommt auch dem Kontakt mit potentiell schambesetzten Situationen eine wesentliche Rolle zu. 
In der Simulation erleben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch in Situationen, in denen sie scheitern können. Sie werden im „Mitarbeiter“-kontakt mit Extremfällen wie z.B. mit sexueller Belästigung, Alkoholmissbrauch oder Diebstahl konfrontiert. Hier ist es notwendig, die eigenen ethischen Maßstäbe zu erkennen und diese zu reflektieren.

In der Simulation wird auch vermittelt, dass proaktives Annäherungsverhalten gegenüber Kollegen und Mitarbeitern vorteilhaft ist. Ängstliches Zaudern und Vermeidungsverhalten wird als nicht hilfreich erlebt. Durch die Notwendigkeit, im 90-Minuten-Takt Handlungsziele in die Tat umzusetzen, wird Druck erzeugt, sich mit Anderen zügig auszutauschen und Lösungen zu entwickeln. Abwarten ist durch den Fluss des Geschehens und die gegenseitige Abhängigkeit aller Teilnehmer kaum möglich. (Teilnehmerstimme: „Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen, die ich z.T. nur vom Telefon kannte, näher kennen- und schätzen gelernt.“)

Auch den siebten Erfolgsaspekt, die Auseinandersetzung mit realitätsnahen Zwickmühlen, erfüllt die Führungssimulation. Die Teilnehmer/innen werden inneren und äußeren Spannungen ausgesetzt. Hierzu gehören zum Beispiel die schwierigen Entscheidungssituationen in den oben genannten Aufsichtsratssitzungen, die Reaktion auf einen Betäubungsmittelmissbrauch oder das Erleben der „Einsamkeit“ einer Geschäftsführerin. Der hohe Zeitdruck erfordert unbedingte Priorisierung und Delegation. Ständig neu auftretende Aufgaben führen zu Stress, Erledigungstermine sind kurz gefasst. Unvorhersehbare Aufgaben und Anfragen kommen auch aus anderen Bereichen und müssen priorisiert werden. Die Gruppen starten mit einem Plan und enden im echten Krankenhausleben.

Die schriftliche und anonymisierte Befragung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern ergab, dass diese spezifischen Seminarziele umfassend erfüllt werden. Bei einem Wert von 5 für „Zielerfüllung zu 100%“ wurde ein Durchschnittswert von 4,7 erreicht.

Zusammengefasst bestätigen unsere Erfahrungen und die Rückmeldungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass das Erlernen und Vertiefen von Führungskompetenzen in der Simulation sehr effektiv und praxisbezogen erfolgt. Die Simulation bietet eine solide Grundlage, um auch in interdisziplinären Teams das gegenseitige Verständnis zu verstärken und Respekt für die Aufgaben Anderer zu gewinnen.

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